Ulrich Krüger – Umfeldgestalter
Was ist schön? Ein Gespräch über Ästhetik.

Blogbeitragsbild Ästhetik
04.08.2016
Architektur & Design

Was ist schön? Ein Gespräch über Ästhetik.

Was haben der Porsche 911, der Design-Sessel von Le Corbusier, die Nase von Romy Schneider und die Venus von Milo gemeinsam? All diese Dinge kamen den Teilnehmern des Round Table in den Sinn, als sie über Ästhetik diskutierten.

 

Svenja Dierker: Laut Duden ist die Ästhetik die Lehre vom Schönen. Und diese Schönheit liegt einer Redewendung zufolge immer im Auge des Betrachters. Stimmt das überhaupt? Ist Schönheit ein rein subjektives Empfinden?

 

Andreas Deilmann: Auf jeden Fall! Man schaue sich nur einmal die Architektur einer Stadt an: Da steht das Reetdachhaus neben der Stuckfassade und auf der anderen Seite ein Gebäude im Bauhaus-Stil. Daran sieht man gut, dass es sehr individuell ist, was den Menschen gefällt.
Was ist schön?

 

Henry K. Deschner: Aber dennoch gibt es einen sozialen Konsens. Wie zum Beispiel bei diesem Sessel hier, den viele Menschen schön finden (zeigt auf das Miniaturmodell des LC Sessels von Le Corbusier). Allerdings gibt es neben dem ästhetischen Empfinden noch weitere Gründe, sich mit einem solchen Designstück zu umgeben: Manche Menschen möchten damit symbolisieren, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, andere sind schlicht unsicher und suchen Orientierung. Wir kennen das von den Edelmarken beim Schmuck: Wenn ein Mann unsicher ist, welches Schmuckstück er seiner Frau schenken möchten, greift er eher zu dem von Cartier als zu einem namenlosen Produkt, im Glauben, damit nicht viel falsch machen zu können. Dann ist es fast egal, wie er das Aussehen dieses Stücks tatsächlich beurteilt – es ist ja von Cartier. Auch so kann man mit Ästhetik umgehen.

 

Andreas Deilmann: Und das tut dem Design nicht gut! Weil es dann überstrapaziert wird. Es gibt Dinge, die allgemein für schön gehalten werden und die dann plötzlich überall auftauchen. Für mich verlieren sie dann ihren besonderen Reiz. Sie werden zur Uniform. Dieses Möbelstück etwa stand schon früher bei uns zu Hause. Und jetzt, fast 60 Jahre später, sehe ich es immer noch in jeder Arztpraxis. Derjenige, der sich das heute kauft, der ist nicht damit groß geworden. Für den ist das ganz neu. Etwas Besonderes. Für mich allerdings ist das Design verbraucht. Wie kann man sich also wieder individualisieren? Die ganzen Klassiker-Möbel sind doch alle 50, 60, 70 Jahre alt. Wo bleibt denn das Design von heute?

 

Ulrich Krüger: Gegenfrage: Du fährst doch einen Porsche. Einen absoluten Klassiker, der nach wie vor weiterentwickelt und gepflegt wird. Kann sich das Design eines 911ers verbrauchen?

 

Andreas Deilmann: Aber das ist doch gar kein Vergleich!

 

Ulrich Krüger: Aber ja doch, es ist ebenfalls ein Klassiker, genauso wie dieser Sessel!

 

Andreas Deilmann: Bei dem Auto geht es doch vielmehr um Technik. Und die entwickelt sich weiter.

 

Svenja Dierker: … woran erkennt man die reine Herrenrunde? Man ist nach fünf Minuten beim Thema Porsche angekommen!

 

Dr. Peter Mikowsky: Wenn man sich über Ästhetik und Schönheit unterhält, muss man sich erst einmal der Definition nähern. Ein Kollege von mir hat den Satz gesagt: Schönheit ist ein Phänomen, das man nur schwer beschreiben kann – aber in dem Moment, in dem es auftritt, merkt man es intuitiv. Es berührt einen. Ich denke, das ist eine Definition, die sachübergreifend Gültigkeit besitzt. Wenn man jetzt den Brückenschlag wagt zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Deilmann, dann wird’s interessant. Warum? Ein Mensch wird auch alt. Und dann kann man sich die Frage stellen: Verbraucht er sich? Oder wird er immer schöner? Ein Möbelstück, das in unser aller Augen schön ist und das uns berührt, kann sich in seiner Wirkung verbrauchen, da stimme ich Ihnen zu. Aber trotzdem bleibt es ja ein schönes Möbelstück.

 

Ulrich Krüger: Mich überzeugt Ihre Aussage: Schönheit ist etwas, das einen anrührt. Ich denke dabei auch an ein schönes Theaterstück. Ich komme zu Ihnen ins Theater, Herr Dr. Peters, und erlebe plötzlich etwas Besonderes. Ich glaube, dass Schönheit nicht demokratisierbar ist. Sie ist etwas sehr Persönliches

 

Svenja Dierker: Das Wort „Ästhetik“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich „Wahrnehmung“ und „Empfindung“ – also ist die Ästhetik von der Wortherkunft ausgehend die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Alles, was unsere Sinne berührt, ist demnach ästhetisch. Das kann natürlich auch etwas ganz Hässliches sein.

 

Dr. Ulrich Peters: Ich glaube auch, wir müssen die Begriffe Schönheit und Ästhetik ein bisschen trennen. Etwas kann ästhetisch sein, ohne dabei gleichzeitig schön zu sein. Und etwas kann schön sein, während ich es dennoch als nicht ästhetisch empfinde. Ich engagiere einen Regisseur beispielsweise wegen einer speziellen Ästhetik – das kann aber durchaus eine Trash-Ästhetik sein, die dazu führt, dass manche Zuschauer das Stück oder das Bühnenbild am Ende hässlich finden. Aber es hat dennoch eine Ästhetik, ein in sich geschlossenes Etwas, das kohärent und stimmig ist. Ästhetik ist ein hochkomplexer Begriff und das Wissen um das Schöne doch auch eine Frage der Kultur und der Bildung. Und auch da gibt es wiederum Ausnahmen: Die Venus von Milo oder die Madonna von Raffael sind seit vielen Epochen als objektiv schön definiert. Da sind wir beim Thema Goldener Schnitt, bei Proportionen, die stimmen.

 

Dr. Peter Mikowsky: Wobei ich da kurz einhaken muss, denn Sie sprachen von objektiv. Schönheit und Ästhetik sind aber immer Begriffe, die soziokulturellen Voraussetzungen bedürfen. Was in einem Land schön ist, kann in einem anderen Land durchaus anders angesehen werden. Man muss also immer gucken, in welchem Kulturkreis man sich mit seinem Urteil bewegt.

 

Ulrich Krüger: Und in welcher Epoche!

 

Svenja Dierker: Man kennt die These, dass Symmetrien als attraktiv empfunden werden. Die Frage an den Ästhetisch-Plastischen Chirurgen: Gilt das auch für den Menschen?

 

Dr. Peter Mikowsky: Nur begrenzt. Ein Gesicht, das komplett symmetrisch ist, sieht nicht gut aus. Spiegeln Sie mal Ihr Gesicht am Computer – Sie werden sich so entfremdet und so hässlich vorkommen, dass Sie sich selbst nicht mehr als ästhetisch empfinden. Das menschliche Gesicht braucht eine subtile Form der Asymmetrie. Makellosigkeit ist nicht gefragt.

 

Andreas Deilmann: Sie würden also bewusst eine asymmetrische Nase operieren?

 

Dr. Peter Mikowsky: Nein. Ich will darauf hinaus, dass sich manche scheinbar allgemeingültigen Gesetze in der Schönheitschirurgie völlig aushebeln. Wir können das ja heute so wunderbar am Computer simulieren: Wenn wir einer schönen Frau eine wunderhübsche Nase aus einem anderen Gesicht geben, vielleicht die von Romy Schneider, dann wird diese Frau nicht schöner – nein, sie wird hässlicher. Proportionen sind bei uns wichtiger als Symmetrien oder die reine Verbindung von Schönem. Das ist in der Architektur möglicherweise etwas ganz anderes. Der Architekt kann aus dem Freien schöpfen, er kann auf einem Grundstück von null auf hundert bauen. Wir haben die Bürde, mit dem, was uns vorgesetzt wird, zu arbeiten – mit der Natur.

 

Roman Mensing: Aber der Architekt baut ja für den Menschen. Und wenn das menschliche Maß die Grundlage ist, dann kommen immer bestimmte Dinge dabei heraus. Ich glaube schon, dass es objektivierbare Dinge gibt, die jenseits von kulturellen Fronten zutiefst in uns eingeschrieben sind. Natürlich wünschen wir uns aber eigentlich, dass alles viel individueller wäre. Deshalb ist die Individualität der Form so wichtig: weil die Menschen eigentlich so gleich sind.

 

Dr. Ulrich Peters: Also ich glaube nicht, Herr Mensing, dass Sie etwas finden, das über alle Epochen als schön empfunden wird. Allein das Frauenbild: In der Renaissance wurde eine Frau mit Doppelkinn als sexy empfunden. Heute würde sie zu Ihnen kommen, Dr. Mikowsky, und Sie bitten, etwas dagegen zu unternehmen. Das ist doch eigentlich verrückt! Bei allen Fragen, die Mode und Ästhetik betreffen, wird man immer eine Pendelbewegung feststellen können. Das Pendel schlägt in ein Extrem aus, dann bremst es und dann geht es zurück in die andere Richtung.

 

Roman Mensing: Das ist deshalb interessant, weil wir diese Pendelbewegung ja auch alle erleben. Frühere Generationen konnten das nicht, erstens ging alles langsamer und zweitens sind die Menschen nicht so alt geworden. Wenn wir heute das Glück haben, 90 Jahre alt zu werden, dann wird uns ja ganz schwindelig vor lauter Pendelei! Ich bin mal gespannt, ob wir als 90-jährige Menschen als Kunden überhaupt kalkulierbar sind. Also ob es so ist wie früher, dass die Leute im Alter immer konservativer werden, oder ob wir uns so viel ästhetische Intelligenz erworben haben, dass wir als Kunden völlig unattraktiv werden.

 

Tim Mersmann: Das ist aber auch eine Einstellungsfrage. Zu uns kommen oft Menschen ins Geschäft, die wissen wollen, was denn heute so aktuell ist. Die haben alles schon miterlebt, aber das wissen sie nicht. Und dann gibt es wiederum diejenigen, die ein ganz klares Bild im Kopf haben. Denen geht es in der Mantellänge manchmal um Zentimeter.

 

Svenja Dierker: Womit wir beim Thema Mode wären. Herr Mersmann, wie wichtig sind modische Strömungen für den Ästhetikbegriff?

 

Tim Mersmann: Wir waren eben bei der Ästhetik, die sich mit den Epochen verändert. In der Mode gilt das ja schon im viel Kleineren: Ein 15- oder 20-Jähriger sieht in Kleidung eine andere Ästhetik als jemand der älteren Generation. Das gilt auch für andere Dinge: Wenn ich zum Beispiel bei meinen Großeltern einen alten, barocken Schrank sehe, dann respektiere ich zwar, dass er für sie schön ist, würde mir aber selbst immer etwas Moderneres ins Haus stellen. Bei uns im Geschäft ist das nicht anders. Die älteren Leute haben einen ganz anderen Geschmack als die jüngeren Kunden. Ein Klassiker, ein Nerz zum Beispiel, wird erst schön für unsere Kunden, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben. So ist es in der Mode, alles wandelt sich sehr stark und ist vor allem vom Alter abhängig.

 
Roman Mensing: Bei Ihrem Produkt geht es ja nicht nur um dessen optische Reize, sondern auch um seine Ambivalenz. Der Pelz ist für den einen das Höchste, die Krönung der Mode. Das beste Material, haptisch fantastisch und so weiter. Und für den anderen ist er einfach nur hässlich und ein Problem, das eine geradezu körperliche Reaktion hervorrufen kann. Es gibt diese ganz fundamental nicht gelernten Dinge, die für alle gleich sind, aber die kulturell erworbenen Dinge können eben auch sehr stark sein und vor allem sehr spontan funktionieren.

 

Svenja Dierker: Ob nun Pelz oder nicht, es geht vielmehr darum, dass ein und dieselbe Sache bei verschiedenen Menschen so unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Also ist unser Empfinden tatsächlich rein subjektiv oder gibt es eben doch gewisse Parameter für Schönheit? Herr Deschner, Schmuck hat ja eigentlich keine andere Aufgabe, als schön zu sein. Gibt es trotzdem Menschen, die einen Edelstein als nicht ästhetisch empfinden?

 

Henry K. Deschner: Bei uns ist es tatsächlich ähnlich wie bei Herrn Mersmann. Auch bei Edelsteinen geht es nicht nur um die rein optische Wirkung, sondern um Emotionen. Es gibt Menschen, die sagen, Diamanten seien dekadent, Rubine würden in unmenschlichen Minen gefördert, und, und, und. Es gibt Menschen, die für Edelsteine Geld ausgeben möchten, und es gibt welche, denen reicht es völlig, wenn sie synthetische Imitate kaufen.

 

Svenja Dierker: Wir reden hier über Porsche und Pelze, über Designermöbel und Edelsteine. Mir scheint es, als seien wir von der mittelalterlichen Überzeugung, dass all das ästhetisch sei, was Gott gemacht hat, soweit weg wie nie zuvor. Ist Ästhetik ein elitärer Begriff geworden?

 

Dr. Ulrich Peters: Warum akzeptieren wir Schönheit nicht einfach als etwas Fließendes? Gibt es etwas, das über Generationen hinweg als schön empfunden wird – muss diese Frage überhaupt sein? Oder können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass es schöne Dinge gibt? Natürlich sind sie kulturell, ethnisch und sonstwie geprägt. Und natürlich unterliegen sie einem Wandel. Jeder hat ein anderes Schönheitsempfinden, und sicherlich hängt das auch von der Epoche ab, in der wir uns bewegen. Aber es gibt sie, diese sogenannten schönen Dinge. Und wenn sie uns berühren, dann erkennen wir sie auch. Ich glaube, wenn wir versuchen, Schönheit als fließenden Begriff zu fassen, ist es leichter.

 

Ulrich Krüger: Für meinen Begriff hat unsere Diskussion zwei Ebenen. Einmal die Ebene des optisch Schönen, der Symmetrien und so weiter. Und dann die Ebene dessen, was es mit uns macht. Wenn mich ein Bauherr, der eine neue Immobilie sucht, fragt, welche wohl zu ihm passt, dann schaue ich mir den Menschen an und gucke, was ist das für ein Typ? Und wenn ich erkenne, dass er viel Wert auf Ästhetik und auf zeitgemäße, aber nicht unbedingt modische Dinge legt, dann sage ich ihm: Suchen Sie doch mal nach einer Immobilie, die eine Seele hat. Und in diesem Moment weiß er, was er suchen soll. Nämlich etwas, das ihn anrührt. Diese Perfektion, von der Sie, Dr. Mikowsky, vorhin sprachen – eine schöne Nase in ein schönes Gesicht zu setzen, um es noch schöner zu machen – die funktioniert tatsächlich nicht. Aber wenn man sagt, ein Haus, ein Gesicht oder ein Möbelstück habe etwas Besonderes, etwas Anrührendes, eine – mir fällt gerade kein besseres Wort ein – Seele, dann wissen wir plötzlich alle, was gemeint ist.

 

Roman Mensing: Wir diskutieren bislang nur über Dinge, die in Sachen Ästhetik eine begrenzte Komplexität haben. Die Ästhetik dieses Sessels beispielsweise lässt sich noch gut fassen. Wenn ich aber darüber nachdenke, dass er Teil eines Bühnenbildes ist, dann wächst die Komplexität ins Unermessliche. Wir müssen uns trotzdem ästhetisch dazu verhalten. Und können das auch, ganz einfach und intuitiv, obwohl es sich unserem vollständigen Verständnis sicherlich entzieht. Dann ist es ein Wunder, ein hohes Maß an Großartigkeit, das gerade mit uns passiert.

 

Dr. Ulrich Peters: Wenn wir so einen Sessel auf die Bühne stellen, dann meinen wir ja etwas damit. Wir suchen immer das, was dahinterliegt. Wir charakterisieren einen Menschen dadurch, dass wir diesen Sessel statt eines dreibeinigen Hockers auswählen. All diese schönen Dinge sind Chiffren für Sehnsüchte, für Dinge, die wir vielleicht nie haben werden. Porsche, Edelsteine, Pelze … Wir benutzen diese Chiffren im täglichen Leben ja auch. Wir drücken aus, was wir haben oder was wir tun.

 

Dr. Peter Mikowsky: Ob im Theater oder im Leben: Alles hat seine Wirkung. Wir kleiden uns in einer gewissen Weise, um eine bestimmte Ausstrahlung zu haben. Wir geben also etwas auf unser Äußeres. Doch wie viel macht das Innere am Schönen aus? Und da ist meine Meinung, dass es mindestens 50 Prozent sind. Und jetzt wird’s richtig kompliziert!

 

Henry K. Deschner: Ja, entscheidend sind immer die Materialien plus ihre Gestaltung. Durch die Gestaltung entstehen ganz unterschiedliche Dinge, zu denen sich dann jeder individuell positionieren kann. Was zählt, ist immer eine Kombination. Beim Menschen sind es das Aussehen und der Charakter. Beim Foto sind es vielleicht das Objekt und die Belichtung. Oder kommen wir wieder auf diesen Sessel zurück: Die Kombination aus Form und Materialien, die Symmetrien – all das zusammen gibt das ästhetische Gesamtbild.

 

Ulrich Krüger: Ist das Innere, das Sie eben ansprachen, vielleicht das, was ich mit Seele beschrieben habe? Liegt es daran, dass dieser Sessel eine Seele hat, dass er generationenübergreifend funktioniert und immer wieder neue Zielgruppen erschließt? Daran, dass er zeitlos ist?

 

Dr. Peter Mikowsky: Ja, vielleicht. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie wichtig das Innere ist. Ich glaube, es hat einen sehr großen Anteil. Schönheit ist eigentlich etwas sehr Authentisches. Wenn Sie, Herr Mensing, ein Foto von einem Menschen machen und der sich darin nicht wiederfindet, dann wird ihm das Bild nicht gefallen. Und so geht es uns allen ein bisschen vor dem Spiegel. Manchmal sind äußerliche Dinge nicht im Einklang mit unserem Inneren. Dann kommt unser Selbstbild ins Wanken. Wir wollen so wahrgenommen werden, wie wir uns selbst sehen. Wenn das klappt, dann sind wir glücklich.

 

Dr. Ulrich Peters: Das ist ja genau das Prinzip vom Theater. Wir spiegeln das Publikum bis zu dem Punkt, an dem es sich selber erkennt, und jeder für sich entscheidet: Bin ich so? Will ich so sein? Oder will ich etwas verändern? Und deswegen glaube ich auch nach so vielen Jahren noch, dass Theater etwas bewegen kann im Menschen.

 

Andreas Deilmann: Eigentlich fehlt hier ein bildender Künstler in der Runde. Der reproduziert das Schöne und wird danach bewertet, wie gut ihm das gelingt.

 

Dr. Ulrich Peters: Apropos Kunst. Ich habe am vergangenen Wochenende die offenen Ateliers am Hawerkamp besucht. Das ist unglaublich, was da passiert ist! 50 Künstler, 50 Ateliers. Man geht hinein, und beim einen macht es Pling, während man beim anderen nur denkt: nein, danke. Das ist ein ganz komplizierter Prozess, der sich da in einem abspielt. Aus manchen Ateliers musste ich meine Frau geradezu herausziehen, und bei anderen ist sie direkt wieder hinausgegangen. Und ich war derjenige, der fasziniert stehengeblieben ist. Vieles spielte sich jenseits der Schönheit ab, es ging eher um die Ästhetik des Künstlers.

 

Roman Mensing: Jetzt fängt es an, mich zu begeistern, worüber wir hier reden. Bislang ging es um das Grundmaterial unserer Wahrnehmungspsychologie. Aber was passiert denn eigentlich vor dem ästhetischen Urteil über das zu erfassende Objekt? Vor dem Ereignis? Es ist doch gar nicht das Kunstwerk an sich; es ist doch das, was in demjenigen vorgeht, der davor steht, der es beobachtet, der etwas damit anfangen muss. Und dafür ist es dann eben doch entscheidend, was derjenige vorher gesehen und erlebt hat. Denn erst dann wird das Ganze produktiv. Insofern kann das Geringste ein fantastisches Kunstwerk sein, wenn das Publikum in der Lage ist, damit umzugehen. Es gibt so viele Situationen, in denen wir ganz spontan im Bruchteil einer Sekunde ästhetisch beurteilen – und das oft sehr sicher. Und das finde ich faszinierend.

 

Svenja Dierker: Gibt es in der ästheischen Wahrnehmung und Beurteilung Unterschiede zwischen Mann und Frau?

 

Ulrich Krüger: Aber auf jeden Fall! Ein Mann hat in der Regel einen anderen Zugang zum Thema Ästhetik als die Frau. Ein Mann fixiert sich gern auf ein Möbelstück, während Frauen schnell ein Gefühl für das Drumherum entwickeln und intuitiv spüren, dass auch Licht, Akustik und all diese Dinge eine große Rolle spielen – die Atmosphäre eben.

 

Henry K. Deschner: Das ist auch bei mir so. Die Männer bekomme ich über die Technik meiner Stücke. Über präzise mechanische Eigenschaften, über die Funktion. Die Frauen entscheiden eher über die Optik des gesamten Schmuckstücks.

 

Svenja Dierker: Herr Krüger, wenn Sie ein Objekt einrichten, setzen Sie dann eher Ihre ästhetischen Maßstäbe an, oder sind Sie bemüht, die Wünsche Ihres Kunden eins zu eins umzusetzen?

 

Ulrich Krüger: Ich sehe mich als Werkzeug, das sich dem Bauherrn zur Verfügung stellt, um ihn über einen Weg, den wir gemeinsam gehen, zu begleiten, bis er weiß: Das ist meins, und das bin ich. Wenn er so weit ist, gehe ich wieder raus aus dem Prozess. Nur so fühlt sich der Mensch bei sich und ist authentisch. Wir dürfen einem anderen Menschen nichts aufstülpen.

 

Dr. Ulrich Peters: Aber die Grundfrage ist doch berechtigt. Was macht man denn, wenn die eigene Ästhetik und die Fremdästhetik des Kunden so gar nicht zusammenpassen?

 

Henry K. Deschner: In so einem Fall ist Beratung auf allerhöchstem Niveau nötig. Die Leute kommen zu uns, weil sie eine Referenz haben und uns vertrauen. Wir müssen unseren Wissensvorsprung einsetzen, um unseren Kunden dabei zu helfen, sich selbst zu definieren. Das Wertvolle sind die Vorschläge, die wir machen. Und wir freuen uns, wenn es dann plötzlich Klick macht.

 

Tim Mersmann: Genau, und manchmal muss man etwas, das auf den ersten Blick unpassend oder unästhetisch wirkt, auch erst aus- oder in unserem Fall anprobieren, um zu sehen, dass es zu einem passt und dass es dazu führt, dass das Gesamtbild am Ende stimmt.

 

Svenja Dierker: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in einem Raum sind, in dem irgendein Gegenstand, ein Bild oder ein Möbelstück Ihr ästhetisches Empfinden massiv stört? Leiden Sie dann?

 

Ulrich Krüger: Wenn ich privat unterwegs bin, dann schaue ich mir den Menschen an, der sich zum Beispiel dieses Bild an die Wand gehängt hat. Wenn das authentisch ist und für diese Person funktioniert, dann kann ich Dinge sogar als schön empfinden, auch wenn sie mich persönlich nicht ansprechen. Wir laufen viel zu viel mit Bildern im Kopf herum und versuchen ständig, dem anderen zu erklären, was schön ist. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, manche Dinge erst mal für sich stehen zu lassen und zu akzeptieren.

 

Andreas Deilmann: Also ich würde im Zweifel einfach rausgehen. Ich bin da nicht so tolerant.

 

Svenja Dierker: Zum Abschluss noch eine Frage: Dr. Peters, was war das Unästhetischste, das Sie jemals gesehen haben? Können Sie sich daran erinnern?

 

Dr. Ulrich Peters: Ja, im Theater sehr wohl. Es hat sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt. Es war eine Aufführung von Macbeth in Bremen, die vor Blut und Innereien nur so strotzte. Ich bin aber nicht rausgegangen, denn die Aufführung hatte einen extrem hohen Reiz. Sicherlich einen unästhetischen Reiz. Aber wie wir anfangs ja gehört haben: Auch das Hässliche kann auf eine Art ästhetisch sein. Es kann eben auch das Unästhetische sein, das einen fasziniert. Ich glaube, in einem sind wir uns alle einig: Das Furchtbarste, das es gibt, ist doch die Langeweile.

 

Svenja Dierker: Meine Herren, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

 

Quelle: Zeitungsgruppe Münster – Magazin „eDel